Biomechanik für GRIPS

Dankbar zurück aus Salzburg von einem berührend schönen Ausbildungskurs, in dem ich auch heuer wieder für angehenden Ganzheitliche ReitpädagogInnen nach Dell´mour zum Thema Gesunderhaltende Biomechanik referiert habe.

Zwei Tage lang haben wir uns ganz dem gesunderhaltenden Bewegungsfluss gewidmet. Wenn es nach mir ginge, könnte die weiße Fahne schon jetzt, vor der Abschlussprüfung, gehisst werden: Alle Teilnehmerinnen haben sich wunderbar auf die neue, intensive Spürarbeit nach der Rotationstheorie eingelassen und alle haben weiche Rückentätigkeit bei den langjährigen Schulpferde-Isländern (!) hergestellt – von Einheit zu Einheit konnten wir beobachten, wie sich die Pferde das neue Bewegungsgefühl gemerkt und sich immer fließender und flaumiger bewegt haben. Mehr Sinn an einem Wochenende arbeiten geht kaum.

Ganzheitlicher, spürbasierter Trainingsansatz

heißt..

Spürbasiertes Reiten mit der Rotationstheorie für korrekte Rückentätigkeit

Gleichgewichts- und Kraftaufbau in der Langsamkeit

Reiten mit 100% Sitz und 0% Gewicht am Zügel

Anheben des Widerrists auf inneres Bild

Förderung faszialer Federkräfte

Somatische Resilienzstärkung (das Nervensystem von altem Stress befreien)

Schonendes, anspruchsvolles Geländetraining

Artgemäße Haltung mit stabiler Gruppe

..und gänzlich ohne

Ans Gebiss „herandehnen“

Hals „rund machen“

„Vorwärts“ treiben

„Abwärts“ schicken

Beine touchieren oder „unter/in den Schwerpunkt“ touchieren

Als wir ihn 5 jährig gekauft haben, hatte er einen Hirschhals mit Axthieb, eine sehr schmale Brust, kaum tragende Muskulatur und poppende Kniebänder – heute sieht er in Bewegung fast aus wie ein anderes Pferd. Als erstes hat seine Hinterhand und sein Rücken aufgemuskelt (die Kniebänder haben sich dadurch vollständig stabilisiert), dann wurde seine Brust breiter und nun fängt sich langsam die Halsbasis an aufzufüllen.
Wir haben ihn 8 jährig kastriert, damit er dauerhaft im Herdenverband mit meinen Wallachen leben kann. Es hat aber nichts mit dem Hengst-sein zu tun, ob sich z.b. der Hals schön entwickelt, sondern ob die Pferde von uns lernen, sich gesunderhaltend zu bewegen. Das ist ein jahrelanger, vor allem koordinativer (Denkleistung, Übung, Gleichgewicht und Tragkraftaufbau sind also gefragt, nicht die Pferde vorwärts in Kurven über Tempo auspowern!), individueller (jedes Pferd braucht auf diesem Weg andere Hilfestellungen von uns) Prozess.
Tausende Muskelstränge müssen wie ein Orchester lernen derart zusammenzuarbeiten, dass aus der Vielfalt an möglichen Tönen eine harmonische Symphonie wird.
Der Muskelmasseaufbau begann bei Destino, als die Rückenmuskeln schrittweise anfingen, sich richtig zu koordinieren und den Widerrist anzuheben (was für ein talentiertes Gangpferd so richtig schwierig ist, weil die doppelt so viele Instrumente im Orchester haben, wie ein Dreigänger).

Auch mein 23-jähriger Schimmel sieht für sein Alter noch richtig gut aus.

Degas von Frau Kienzl

Die Geschichte von Degas & Frau Kienzl
Im Jahr 2000: gesund als talentierter Hannoveraner geboren
7-jährig: Grand Prix „fertig ausgebildet“ – allerdings in allen Lektionen mit nach unten gedrücktem Brustbein und massiv auf die Vorhand geritten, wie uns sein Körpergedächtnis 13 Jahre später enthüllt. Degas verweigert durch hohes Steigen alle Dressurbewerbe und wird an eine Dressurreiterin verkauft – doch auch nach einem Jahr Weidepause steigt er weiter ist und ist dazu links vorne lahm
10-jährig: Seine jetztige Besitzerin Frau Kienzl kauft Degas als Freizeitpferd, bei der Ankaufsuntersuchung in Bezug auf die Lahmheit werden Kissing Spines festgestellt. Es folgt eine jahrelange Odysee mit unzähligen Sehnenschäden und verschiedensten Befunden, wie Arthrosen an allen Beinen sowie fortwährende Therapien mit Einspritzungen in Rücken und Sehnen.
17-jährig: Der bis dahin behandelnde Tierarzt empfiehlt die endgültige Pensionierung von Degas. Frau Kienzl gibt jedoch nicht auf und probiert in den folgenden zwei Jahren stattdessen verschiedenste Trainingsmethoden aus, um ihrem Pferd zu helfen.
19-jährig: Trainingsbeginn mit mir. Degas Rücken ist zu diesem Zeitpunkt unterbemuskelt, abgesunken und massiv schief verdreht, er schafft an der Longe keinen einzigen Trabschritt oder Galoppsprung. Nach einer Beurteilung durch Pferdeorthopäde Dr. Peter Kübber, beginnen wir mit korrektiver Schrittarbeit an der Hand und im Sattel. Nach einigen Monaten sind die ersten Trabschritte möglich.
20-jährig: Traben und erste Galoppsprünge möglich.
21-jährig: Federnder Trab und rückentätiger Galopp möglich – seine Bewegungsfreude wächst zunehmens und Degas bietet überraschend erste fliegende Wechsel an, allerdings während des Umspringens wieder auf der Vorhand lastend, so wie er es 13 Jahre zuvor gelernt hatte.
22-jährig: Neue Bewegungsmuster, Rückentätigkeit und Gleichgewicht sind soweit fortgeschritten, dass ihm fliegende Wechsel auf beide Hände am lockeren Zügel möglich sind. (Video von April 2022)
Es gibt spektakuläre Dressur und gesunde Dressur.
Gesunde Dressur macht das Pferd gesünder.

Versammlung auf inneres Bild & Sitzhilfen

Der wundervolle Degas von Heidi Kienzl hebt hier den Widerrist auf Sitzhilfen an (keine Sporen, keine Gerte, keine Stimme) und zeigt dass selbst ein – wie hier zur Demonstration – übertrieben langer Zügel im Trab keineswegs schlackert, wenn Rückentätigkeit gegeben ist. Dann kann man auch so große Bewegungen gut sitzen und die eigene Hand und folglich der Zügel ruht in sich.

Schritt

Diese Woche ist mein geliebter Serido 24 Jahre alt geworden. Abendsonne, leichte Schrittarbeit und viel Dankbarkeit.

Über die Problematik rückständig tretender Vorderbeine

In diesem Video erklärt einer meiner Lehrer, Jean Luc Cornille, warum eine lotrechte Beinachse zum maximalen Belastungszeitpunkt für die Pferdegesundheit so wichtig ist.
Das Röhrbein (cannon bone) sollte zum maximalen Belastungszeitpunkt – also kurz vor dem Abfußen wenn sich die Fessel maximal absenkt – möglichst lotrecht/vertikal stehen. Steht es in dieser Lastphase rückständig, wirkt übermäßig viel Druck auf die tiefe Beugesehne (deep digital flexor tendon) und das Strahlbein (navicular bone=distal sesamoid bone).
Das rührt daher, dass die tiefe Beugesehne bis unterhalb des Strahlbeins verläuft. Unter rückständigem Tritt wirkt vermehrt Zugkraft auf diese Sehne was den Druck auf das Strahlbein und den umgebenden Bereich dort punktuell höher macht, als es bei einem lotrechtem Tritt der Fall wäre. Ein bisschen vergleichbar mit einem Seil das über eine Umlenkrolle führt – je mehr ich am Seil ziehe, umso mehr Kraft wirkt auch auf die Umlenkrolle. Hufrolle ist eine Entzündung in genau diesem Bereich.
Ein Vermindern der Rückständigkeit, welches eine Veränderung des gesamten Bewegungsablaufs ausgehend aus der Rückentätigkeit bedingt, kann hier helfen. Cornille hat bei Hufrolle viele Heilungserfolge erzielt und z.b. auch bei Quarterhorse Max, der auch einen Hufrollenbefund hatte, haben wir dementsprechend, neben einer guten Rückentätigkeit, viel daran gearbeitet dass er vermehrt lotrecht tritt.
An dieser Stelle sei hier nochmal auf Cornilles umfangreichen Onlinekurs „In Hand Therapy von Science of Motion“ verwiesen, dessen Inhalte durch Cornilles Akzent zwar etwas mühsam verständlich, aber biomechanisch sehr aufschlussreich sind.
Ebenso auch nochmal auf die (Online-)Vorträge von Christin Krischke über das „Vorwärts-Abwärts“, die „fein-lockere Zügelführung“ und „Tempo“, da das Thema der übermäßigen Last auf der Vorderhand in Zusammenhang mit der Kopfhöhe und dem Tempo beim Training diesbezüglich ebenfalls eine große Rolle für die Pferdegesundheit spielt.
Wenn man sich abschließend vor Augen führt, welche enorme Körpermasse auf die verhältnismäßig dünnen Pferdebeinchen wirkt, wird schnell klar, dass jede kleinste Winkelveränderung oder Körpermasseverschiebung ein bisschen mehr hierhin oder dorthin in Bezug auf die Verteilung jeglicher Kräfte v.a. für die Extremitäten (Schubkräfte, Federkräfte, Zugkräfte, Zentripedalkräfte, Reibungskräfte, Hebelkräfte uvm..) einen riesen Unterschied machen.

Entspanntes Hufe machen

…und dann entspannter Barhuf-Ausritt trotz fies-spitzem Wegmaterial.

Ich bin Huf-Laie, doch Experte für die Beurteilung ob sich meine Pferde wohl fühlen, schließlich beobachte ich sie seit Jahren täglich. Sie haben mich auch bei diesem Thema (zusammen mit divergierenden Fachmeinungen) gelehrt, was für sie klappt und was nicht.
  • Mal ein paar Milimeter zu viel Tragrand stehen gelassen > Wand hebelt weg
  • Mal zu viel Tragrand abgerundet > Fühliger gegangen
  • Mal die Strahlspitze zu lange gelassen > Rückständiges Stehen beim Rasten usw..
Nach einigen Jahren und bewusstes und unbewusstes Trial-Error-Prinzip weiß ich nun in welchem Intervall und in etwa wie meine drei Pferde gerne bearbeitet werden wollen.
Auch bei diesem Pferdethema gilt:
  1. Ja es ist kompliziert, aber durchaus erlernbar (Mit einem Hufkurs ist es leider nicht getan)
  2. Pferdewohl vor Lehrbuch-Menschen-Idee (Langfristig bequem laufen können ist die Devise)
  3. Der Hund steckt im Detail (Ein paar Milimeter mehr/weniger machen einen großen Unterschied)
  4. Man lernt nie aus (Profi-Feedback und unterschiedliche Meinungen einholen! Profis, sind für mich jene, die das beruflich machen und die das Feedback deines Pferds in ihr Tun miteinbeziehen und wo es klappt)
  5. Ganzheitliches Denken in Bezug auf andere Faktoren wie Fütterung, Training, Haltung.. ist auch hier nötig (womit wir eigentlich wieder bei Punkt 1 wären..)

Fallbeispiel Hufrolle & Versammlung

Ehrliche Versammlung, die von innen aus dem Pferd entspringt, ist immens viel kniffliger zu erreichen, als das Pferd über Zügel und Bein in eine Formidee zu pressen. Sie bedingt eine Menge Feinstgefühl, Wissen und Übung, ist dann allerdings unvergleichlich schöner im Anblick & Reitgefühl und langfristig gesunderhaltender.

Eine meiner Kundinnen, Tierärztin Mag. Johanna Forster und ihr Quarterhorse-Wallach Max zeigen es vor: Ehrliche Versammlung mit Sitz und innerem Bild am lockeren Zügel!

Und dass, obwohl ihre Voraussetzungen bei Trainingsbeginn nicht einfach waren:
  • Max war lahm u.a. mit einem Hufrollenbefund
  • Er ist überbaut mit sehr tief stehender, massiver Brust und tief angesetztem Quarter-Hals (Brust/Hals nach unten gezüchtet)
  • Sein leistungsbereites Temperament verlangt 100%ige, feinste Präzisionsarbeit, sonst zeigt er mitunter heftigen Widerstand
Johanna hat mit ihm hervorragend und konsequent gearbeitet und ganzheitlich gehandelt, in dem sie sich in den Themen gesunderhaltende Bewegungslehre, Futtermittelkunde, Hufschuhe, Satteloptimierung und Hufbearbeitung umfassend weitergebildet hat.
Meine herzliche Gratulation – in meinen Augen vorbildlich und auf höchstem Niveau geritten!

Täglicher Sattelcheck

Tägliches Abtasten der Sattellage vor und nach dem Reiten

auf fühlbare Platten, Verhärtungen, Löcher oder Kulen beugt Atrophien (per Definition: „Gewebeschwund mit Minderung der Funktion“) vor. Wenn man welche wahrnimmt, sollte man den Sattel ab sofort nicht mehr verwenden und etwas verändern bzw. SattlerIn kommen lassen.
Fortgeschrittene Atrophien sind nämlich mühsam wegzukriegen und beeinträchtigen das Pferd, daher vertraut eurem Tastsinn und wehret den Anfängen.